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DRUCKVERSION Unruhe im Unteren Odertal

Mit Zäunen soll die Ausbreitung der Afrikanischen Schweinepest verhindert werden. Im Nationalpark Unteres Odertal sind sie Todesfalle für Wildtiere

von UWE RADA

An den meisten Stellen ist der Zaun inzwischen unter Wasser", sagt Kristina Kämpfe und deutet über den Deich zum gefluteten Polder. "Dort, wo sich das Gestrüpp sammelt, siehst du noch die Spitze des Zauns." Kristina Kämpfe zeigt auf eine Karte, auf der der Oderkanal und die drei Kilometer südöstlich strömende Oder eingezeichnet sind. Die Polder, die Flächen zwischen beiden Wasserläufen, hat das Winterhochwasser wie jedes Jahr überschwemmt. "Im Sommer kann man hier spazieren gehen", sagt Kristina Kämpfe. "Jetzt ist alles vollgelaufen wie eine Badewanne." Eine Badewanne, die eingezäunt ist: "Für viele Wildtiere ist das eine Falle, sie müssen jämmerlich ertrinken."

Kristina Kämpfe greift nach ihrem Handy, leitet eine Whatsapp-Nachricht weiter. Aufgelistet sind Rehe, Schwäne, Biber, Baummarder und Graureiher, die an den Zäunen verendet sind, die mitten in die Amazonaslandschaft des Nationalparks Unteres Odertal gesetzt wurden. 77 Rehe waren es alleine im ersten Halbjahr 2022. Aktivistinnen der Facebookgruppe "Uckermark ASP Zaun Katastrophe" haben die Zahlen zusammengetragen.

"Das ist ein Horrorzaun", sagt Kristina Kämpfe und schüttelt den Kopf. Sie sei in Schwedt geboren, erzählt sie. "Wer in den neunziger Jahren nicht zu den Nazis gehörte, hatte wenigstens den Nationalpark. Es war ein Rückzugsort, für uns und für die Tiere."

Nun ist der Nationalpark eingezäunt und an mehreren Stellen sogar zerschnitten. Die Zäune sollen Wildschweine aufhalten und das Vordringen der Afrikanischen Schweinepest (ASP), die die Schweinebetriebe bedroht, Richtung Westen verhindern. Die toten Wildtiere, sagt Kämpfe, würden von den Verantwortlichen offenbar "als reine Bagatellschäden" betrachtet.Auch an diesem Montag sind nahe der Schwedter Schleuse zwei Rehe zu sehen. Dort, wo der Zaun noch nicht ganz unter Wasser steht, springen sie von der Schwedter Querfahrt entlang des Oderkanals Richtung Criewener Polder. Die Durchlässe, die der für die ASP-Bekämpfung zuständige Landkreis Uckermark alle tausend Meter in den 1,20 Meter hohen Zaun eingebaut hat, haben sie nicht genutzt. Sie sitzen in der Falle.

Etwas Besonderes in Deutschland

Der Nationalpark Unteres Odertal ist etwas Besonderes in Deutschland, vergleichbar vielleicht nur mit dem Wattenmeer an der Nordseeküste. Zwischen dem Oderkanal im Westen und der Oder an der Grenze zu Polen erleben Besucher eine Landschaft, die sich im Rhythmus von Winterhochwasser und Sommertrockenheit wiegt. Doch Deutschlands einziger Flussauennationalpark ist nach den Worten seines Leiters Dirk Treichel mittlerweile zu einem "Tiergehege" geworden. Für karina Dörk (CDU), die Landrätin im Kreis Uckermark, ist der Nationalpark dagegen eine "Weiße Zone".

Weiße Zone, das klingt nach Science Fiction, nach aufgegebenem Territorium jenseits des Vertrauten, nach einer Versuchsanordnung außerhalb gültiger Regeln oder einfach auch nach einer Sperrzone – wie die, die nach der Explosion im AKW in Tschernobyl in einem Radius von 30 Kilometern um den havarierten Reaktor 4 gezogen wurde. Seitdem die Afrikanische Schweinepest am 10. September 2020 im Landkreis Spree-Neiße ausgebrochen war, gehören Weiße Zonen zum Repertoire der Seuchenbekämpfung in Brandenburg. Auch in einem Nationalpark.

Das mit der Seuchenbekämpfung geht so: Wird ein an der ASP verendetes Wildschwein gefunden, errichtet das Veterinäramt eines Landkreises ein Kerngebiet um die Fundstelle und lässt es einzäunen. In ihm kann sich die Seuche ungehindert ausbreiten, alle Wildschweine sterben. Um sicherzugehen, dass das Virus nicht nach außen gelangt, wird um das Kerngebiet im Radius von meist fünf Kilometern die Weiße Zone gezogen und ebenfalls mit Zäunen geschützt. Hierin soll der Schwarzwildbestand "auf Null" gebracht werden, das heißt, alles Wildschweine sollen gejagt oder mit Fallen gefangen werden. Wenn innerhalb eines Jahres kein neuer ASP-Fall auftaucht, kann der Landkreis die Zäune wieder entfernen.

Im Landkreis Oder-Spree, neben Spree-Neiße und der Uckermark ein Hotspot der Afrikanischen Schweinepest, sind die meisten Zäune wieder abgebaut. Nicht so in den Auen des Nationalparks Unteres Odertal, der sich auf einer Länge von 60 Kilometern und einer Breite von oft nur drei Kilometern entlang der Grenze nach Polen erstreckt. Schon bevor am 12. August 2021 südwestlich von Criewen, einem Ortsteil von Schwedt, bei einem verendeten Frischling der erste ASP-Fall in der Uckermark nachgewiesen wurde, hatte Brandenburg bereits einen 120 Kilometer langen ASP-Zaun auf der deutschen Seite der Grenze errichten lassen.

Der Fundort des Frischlings lag zwischen Grenze und dem ersten ASP-Schutzzaun am Oderkanal. "Der gebaute Zaun hat seine Funktion erfüllt", sagte damals eine Sprecherin von Landrätin Karina Dörk (CDU). Kurz danach baute der Landkreis einen zweiten Zaun. Anders als die Zäune um die Seuchenfunde im Hinterland sollen die parallel verlaufenden Zäune zu beiden Seiten der Polder stehen bleiben und weiterhin das Einwandern von Wildschweinen aus Polen verhindern. Der "Horrorzaun", von dem Kristina Kämpfe spricht, wird weitere Opfer fordern.

Unterschriften gesammelt

Als die ersten toten Tiere gefunden wurden, hat auch Enrico Rahn Unterschriften gesammelt. Mehr als 100.000 sind binnen kürzester Zeit zusammengekommen. "Den Menschen in Schwedt ist der Nationalpark nicht egal", sagt Rahn, der bei der Raffinierie PCK in Schwedt als Wachmann arbeitet. In seiner Freizeit geht Rahn fotografieren. Sogar einen kapitalen Hirsch hat er einmal vor der Kamera gehabt.

Auch Nationalparkleiter Dirk Treichel hat sich damals, vor zwei Jahren, zu Wort gemeldet. Nicht nur das Wort vom "Tiergehege" hat er in die Welt gesetzt, er hat auch darauf hingewiesen, dass sich die Natur in einem Nationalpark entwickeln können muss. Vor allem im Frühjahr ziehe es Gänse und Schwäne raus auf die angrenzenden Landwirtschaftsflächen und abends wieder zu ihren Schlafplätzen im Nationalpark. "Da der Zaun unmittelbar im Überflutungsbereich steht und von den Vögeln gar nicht als Zaun wahrgenommen werden kann, besteht also eine erhebliche Gefahr von Schlag­opfern", sagte Treichel bei einer Videokonferenz des WWF. Die Vögel bleiben im Zaum hängen.

Inzwischen meldet sich Treichel nicht mehr zu Wort. Fragen an ihn werden an das Brandenburger Umweltministerium weitergeleitet, dem der Nationalpark untersteht.

Damit die Tiere im Winter bei Hochwasser nicht ertrinken, hatte Treichels Nationalparkverwaltung 2022 vorgeschlagen, den westlichen Teil des Zauns vom Oderkanal um einige Kilometer zurückzuverlegen, damit die Wildtiere hinter dem Winterdeich auf dem Trockenen stehen können.

Zur gleichen Zeit hatte der Verein "Wildtierschutz Deutschland" mit Unterstützung des Bundes für Umwelt und Naturschutz BUND Brandenburg beim Verwaltungsgericht Potsdam eine Klage gegen den Zaun eingereicht. Die "einzigartige Auenlandschaft des Nationalparks Unteres Odertal" sei als Fauna-Flora-Habitat Teil der internationalen Natura 2000-Gebiete und als europäisches Vogelschutzgebiet streng geschützt, heißt es zur Begründung der Klage. "Die nach und nach aufgestellten ASP-Schutzzäune verhindern nicht nur die Flucht der Tiere vor dem Hochwasser, sie zerschneiden auch die unterschiedlichen Lebensräume und beeinträchtigen damit erheblich den Schutzzweck des Nationalparks."

Die Proteste hatten auch die Politik aufgescheucht. Am 4. Februar 2022 befasste sich der Potsdamer Landtag in einer Sondersitzung des Landwirtschaftsausschusses mit dem Schutzzaun. Während ihn Uckermarks Landrätin wörtlich als "Bollwerk gegen die Ausbreitung der Afrikanischen Schweinepest nach Westen" verteidigte, wies Lovis Kauertz vom Verein Wildtierschutz Deutschland darauf hin, dass längst zahlreiche ASP-Fälle bei Wildschweinen jenseits des Bollwerks aufgetreten seien.

Zwei Wochen später musste der Landkreis zurückrudern und kündigte an, den Zaun Richtung Westen zu versetzen. "Mit der Zaunversetzung schaffen wir eine Lösung, die sowohl den Belangen des Seuchen- als auch des Tierschutzes Rechnung trägt", ließ sich Landrätin Dörk in einer Pressemitteilung zitieren. Was sie nicht sagte: Statt den Zaun auf der gesamten Länge der Polder zu verlegen, wurde nur ein Teilstück von nicht einmal zehn Kilometern versetzt.

Enrico Rahn sagt: "Zehn Kilometer? Das ist doch auf einer Länge von sechzig Kilometern ein Witz."

Im gefluteten Schwedter Polder gibt es schon jetzt kaum Stellen, an denen die Rehe auf trockenem Boden stehen können. Dabei ist die Schneeschmelze, die im Quellgebiet der Oder in Tschechien begonnen hat, noch gar nicht am Unterlauf des Flusses angekommen.

Spuren, die es nicht geben dürfte


Dort, wo die beiden Rehe Richtung Criewener Polder den Zaun entlang geirrt sind, ist die Erde durchwühlt. Es sind Wildschweinspuren. Spuren, die es dort eigentlich nicht geben dürfte.

Dass sich in der Weißen Zone der Polderlandschaft nicht nur Rehe befinden, sondern auch Schwarzwild, hat eine Drohnenbefliegung Anfang des Jahres ergeben. Zweihundert Wildschweine wurden bei der Auswertung der Bilder nach Informationen der taz gezählt. Sie haben den Zaun an der Oder, den Landrätin Dörk als "Bollwerk" bezeichnet, überwunden.

Der Landkreis sagt zu alledem: nichts. Der Fragenkatalog, den die taz an die Landrätin schickte, blieb auch acht Tage danach unbeantwortet. Auch die Zahlen der toten Wildtiere werden nicht mehr öffentlich gemacht. Dabei hat der Landkreis unter anderem private Firmen beauftragt, die Zäune zu befahren und Kadaver zu entsorgen.

Ist die Strategie des Landkreises Uckermark mit dem "Bollwerk" also gescheitert? Wäre es besser gewesen, auf Zäune mitten durch Landschaften und Nationalparks, auf Kerngebiete und Weiße Zonen zu verzichten und stattdessen, so wie in Polen, die Schweinemastbetriebe selbst zu schützen? Waren die mehr als 100 Millionen Euro, die Brandenburg für ASP-Zäune ausgab, herausgeworfenes Geld?

Statt sich Fragen wie diesen zu stellen, setzt der Landkreis auf die nächste Eskalationsstufe – die verstärkte Jagd nach Wildschweinen. Auch Treibjagden während der Brutzeit der Wasservögel sollen dazugehören.

Dietmar Günther hält von alldem nichts. "Allein das Ziel ist schon illusorisch", sagt der Jäger, dessen Pachtgebiet im Polder 10 liegt. "Man kann in der Kernzone des Nationalparks den Bestand an Wildschweinen nicht auf Null jagen."

Unterstützung bekommt der Landkreis dagegen vom grün geführten Umweltministerium in Potsdam. "Der ASP-Schutzkorridor an der Grenze zu Polen soll ASP-Einträge von dort nach Brandenburg verhindern", sagt Frauke Zelt, Sprecherin von umweltminister Axel Vogel (Grüne). "Das funktioniert nur, wenn die Schwarzwilddichte dort so gering wie möglich ist, sodass die Infektionskette dort abreißt."

Allerdings müsse die "tierseuchenrechtliche Entnahme von Schwarzwild" im Nationalpark "so schonend und zielgerichtet wie möglich erfolgen". Dennoch seien Treib- oder Drückjagden nicht ausgeschlossen. Allerdings nur im November und Dezember, schreibt die Sprecherin und verweist auf die "Verordnung zur Regulierung der Wildbestände im Nationalpark Unteres Odertal".

Dort steht allerdings auch, dass Drückjagden nur "vorbehaltlich der Zustimmung der Nationalparkverwaltung" zulässig seien.

"Hochwasser im eingezäunten Überflutungsgebiet", heißt es im jüngsten Eintrag der Facebook-Gruppe "Uckermark ASP Zaun Katastrophe". "Ein paar Rehe konnten sich noch retten auf einer minimalen trockenen Stelle neben dem Aussichtsturm Stützkow. Es sieht dramatisch aus."

Eilverfahren abgelehnt

Aufgeben wollen die Aktivistinnen nicht. Auch nicht Lovis Kauertz vom Verein Wildtierschutz Deutschland. Frustriert ist er aber schon. "Unser Eilverfahren gegen den Zaun ist im November 2022 durch das Verwaltungsgericht Potsdam abgelehnt worden", sagt Kauertz. Auch die Beschwerde gegen die Entscheidung wurde im Dezember 2023 vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg abgewiesen. "Jetzt hoffen wir auf das Hauptsacheverfahren. Doch das Oberverwaltungsgericht habe die Akten noch immer nicht an das Verwaltungsgericht zurückgeschickt.

"Mir scheint das wie absichtliche Prozessverschleppung", sagt Kristina Kämpfe.

Jäger Dietmar Günther sagt: "Die erste Drückjagd hat es außerhalb des Polders bereits vor zwei Wochen gegeben." Dabei habe bei den Seeadlern die Brutzeit begonnen. "Das ist eine unheimliche Beunruhigung."

Die nötige Zustimmung des Nationalparks? Wurde nicht eingeholt.

"Darf man wirklich der Fleisch­industrie einen Nationalpark opfern?", fragt Kristina Kämpfe. "Ich finde, nein."


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